Infrastruktur, Ornamentalisierung, Archivierung. Oder: Das Regal als Tendenz zur Unabschließbarkeit. Oder: Kunst im Versprechen.

Burghart Schmidt, Januar 1995

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Zu Franz Türtscher auf Umwegen

Man klagt heute über den Schwund von Verbindlichkeiten, Verbundenheiten, Zugehörigkeiten und Identitäten. Was man darunter meint, hat aber damit zu tun, dass, was man im Schwinden empfindet, sich realiter realisierend im Anwachsen befindet. Ja, der Schwund wird erst ermöglicht und erzwungen durch das Anwachsen. Wie das? Es hat da seit dem Sichwenden der menschlichen Lebenspraxis von Technik zu Technologie das Verbindlichkeitswesen der Lebenpraxis sich verschoben aus der erscheinenden Lebensgestaltung, der Extrovertiertheit also, in die Introvertiertheit des Infrastrukturellen.

Das hat begonnen im 19. Jahrhundert mit der wesentlichen Ausrichtung der abendländischen Produktion auf die Infrastrukturen der Kanalsysteme, der Eisenbahnsysteme und der Straßensysteme, insgesamt auf die allgemeinen Verkehrsnetze demnach. Worauf die vernetzende Industrialisierung des Haushalts folgte, den Privatverkehr einschließend. Und schließlich in den letzten Jahrzehnten ist die Unterhaltungswelt dran, ihre Infrastruktur, statt sie ins Unbewusste zu verbergen, in vernetzenden Entwicklungen herzvorzukehren. Was Jean Baudrillard im Anschluss an Marshal McLuhans Spruch "The medium is the message" dazu bewog, anzunehmen, dass man Kommunikation, also den zwischenmenschlichen Verkehr, auch und gerade in der Unterhaltung nur noch operieren lässt, das heißt, anwirft, umschaltet, unterbricht, neuerlich einschaltet und Einstellungen wechselt, reguliert, ohne Interesse an dem, was dargestellt wird, Hauptsache: Es läuft - seinen technischen Verkehrsmöglichkeiten entsprechend.

In Hinsicht auf solche Infrastrukturalitäten haben bis in die Konvertibilität der Währungen und den bargeldlosen Verkehr die vernetzt-vernetzenden Verbindlichkeiten aufs Äußerste zugenommen, die verstrickenden und bestrickenden Zugehörigkeiten der Funktionsstrukturen. Und das gerade, indem sie scheinbar wertneutral oder wertungsfrei die Zugehörigkeiten zu erscheinenden Lebensgestaltungen unterlaufen. Nicht, dass hier etwas auf einmal und in einem Aufwasch geschehen sei, viele Relikte des alten Typs der Zugehörigkeiten bleiben stehen wie bei den Küstenbildungen der Meere, doch sie haben ihren Stil verloren, sie sind kein Zeitgeistdurchklang oder auch Regionalcharakter mehr, sondern Relikt druch und durch, Überstand und Überhang. Das macht die Strukturalität unserer Zeit aus gegen das Gestalthafte. Man mag das beklagen, doch andererseits schickt es das ideologisch Bekenntnishafte aus der Welt oder wenigstens in die Privatsphäre, das ideologisch Bekenntnishafte, das selbst noch dort verfeindet, wo man dasselbe will, nur unter anderen Vorzeichen. So konnte sich der Versuch, das Wölfische im Menschen zu überwinden, unter christlichen Vorzeichen wölfisch mordend auf die stürzen, die unter anderen religiösen Vorzeichen ebenfalls das Wölfische im Menschen überwinden wollten, das nur als Beispiel, welches im 20. Jahrhundert besonders viele Entsprechungen fand, große Vorzeichenheuchelei also.

Wenn die Strukturalität aus solchen Zugehörigkeitsräuschen Menschen ernüchtern kann, dann mag man mit dem Katerweh der Ernüchterung in den Klagen über Identitätsverlust wenig Mitleid haben und die Sucht nach Bekenntnistreue verachten. Immerhin hat die Strukturalität bei Lévi-Strauss es zu der Entdeckung gebracht, dass, unter dem seit dem 19. Jahrhundert entstandenen Vorrang des Infrastrukturellen gesehen, die Strukturen des Denkens, Vorstellens, Fabulierens und Handelns bei den sogenannten Naturvölkern sich von der abendländischen Kultur nicht besonders unterscheiden, das Vergangene vermag also durch strukturalen Blick oder durch den Primat des Infrastrukturellen aus äußersten, ja entschieden geschienen habenden Wertungsniederlagen zurückzukehren.

Aber selbstverständlich wird die heute laufende Verabsolutierung des strukturali-systemtheoretischen Infrastrukturellen nach der anderen Seite mit Durchrasterung unserer Welt ohne Rücksichten auf das Gerasterte, also auf das, was den Rastern aufgetragen und eingetragen ist, in einen absurd technologischen Infrastrukturalitätswahn treiben, der sich auch grün oder ökologisch bei aller vorgegebenen Technikkritik in der Verehrung fürs angeblich alles bewahrend-schützende Funktionssystem der Natur anmeldet. Im Ornamentalen aber hatte sich künstlerisch schon immer durch die Menschheitsgeschichte ein Retten-Wollendes auf den Weg gemacht, ursprünglich rettend vor der Verabsolutierung von ewigen Dauermustern des Gestalthaften, indem das Gestalthafte aus seinen symbolischen Ballungen eingebracht wurde in sich weiter strukturierende Strukturen, eben das Infrastrukturelle des Verkehrs statt der statischen Ruhe. Nun aber würde das Ornmaentale die Rasterung um ihrer selbst willen, den bloßen Verkehr von gar nichts unterlaufen mit der Zitation von Gestalthaftem, das sich einnistet. Die Rede ist bekannt nach der unsere heutige Kultur sich ornmentalisierte. Aber gewöhnlich meint man damit das Beliebige des Bedeutungslosen im Dekor, das abgrundlos bloß schmücken und herumspielen will. Dieses vereinseitigt aber das Ornamentale, das doch Inhaltlichkeit des Bedeutens retten will in seinem Funktionsstrukturellen. Das Bewegliche des Ornaments, die Darstellung auf Reisen sozusagen, hat wesentlich das Haltepunktliche in sich und an sich, der Raster rastert etwas. Und das, was bisher gesagt wurde, notiert die Fragestellungen der Kunst von Franz Türtscher in den letzten Jahren. So, wie sie nun ausgestellt ist, hebt sie an mit Versuchen auf das allseitige Reihen von Rahmendem, was eben rahmensprengend Raster ergibt. Rahmen will bekanntlich isolieren, das heißt, in Individuation das Einzigartige hervorheben, der Raster aber setzt eben über zu beweglicher Funktion, in ihrer einfachsten Weise zum Ablauf. Dieses Gegeneinander-Fungieren von Rahmen in seinem ursprünglichen An-sich und dem aus seiner Serialisierung sich ergebenden Raster soll auf einem anderen für Türtscher ebenfalls wichtigen Weg näher beleuchtet werden, der zum Gegeneinander von Rahmen und Rand führt.

Man kann wohl sagen, dass das Photographische in der euroamerikanischen Visualumwelt vorherrschend geworden ist und das wurde von dorther weltweit übertragen. Gemeint ist dabei selbstverständlich das Photographische in allen seinen Entwicklungen und Transformationen zum Heute hin. Das Photographische aber charakterisiert sich als Bildlichkeit, vor allem erst einmal durch das, was es aus der ihm vorhergegangenen Bildlichkeit abhebt, mit dem Ersetzen des Rahmens als bildordnender Funktion durch den Rand. Rahmung hatte in den wie auch immer illusionierten Bildraum zusammengezogen, der sollte ein Sonderraum werden gegenüber dem ihn umgebenden wirklichen Raum. Der Schnittrand einer Photographie aber weist den Betrachter über das Darstellungsfeld hinaus, er ersieht das Dargestellte nur als einen Ausschnitt, während Rahmung den Darstellungsraum absolut setzte: Du sollst (im Betrachten) keine anderen Räume haben neben ihm, was Walter Benjamin die Aura nannte. Nicht, dass es es nicht zu einer Durcheinanderlagerung der beiden Bildlichkeitstypen, der Gerahmtheit und der Gerandetheit, in unserer Kultur gekommen wäre, nur den Durchschnittsprimat hat sich die Photographie erworben.

Aber wenn nun Franz Türtscher sich gerade in seiner Arbeit auf das Thema des Rahmens richtet, dann meint er etwas anderes als das gerade Angerissene daran. Denn mitten in unserer Kultur des Randens gegen das Rahmen setzt sich zugleich mit dieser Konfrontation ein Rahmendes fest, das von ihm, dem Rahmenden, nur die Versprechensfunktion festhält, die Vereinheitlichungsarbeit zur Erfüllung dieses Versprechens aber wachsend auszuschließen beginnt. Das Festgehaltene jedoch unter dem Ausschluss des anderen bringt gerade Entsprechung der reduktiven Rahmenfunktion mit dem Randenden hervor. Denn das Randende am Photographischen ist ja gerade das Versprechen einer Komplexitätsansicht, die nicht zur Darstellung kommt, einfach das Versprechen eines Versprechens, das uneinholbar sich fortzusetzen vermag. Und darin gleicht ihm das Rahmende, wenn es sich zum losgelösten Eigenthema macht. Denn Rahmen ist ja Anzeige zu etwas, was sich in ihm abspielt oder abspielen wird und zielt derart auf Erwarten wie jede Anzeige oder Voranzeige. Bei Ausbleiben aber des Zuerwartenden läuft der Rahmen leer, er rahmt sein Rahmendes, wo er gar nicht bei Türtscher in sich, intern Rahmen auftreten und so durchtreten lässt. Oder man denke an Türtschers nach oben offene Rahmen, in die sich Rahmen einschieben lassen oder Rahmentafeln einer Einschreibebereitschaft, die ausbleibt und so zur nach vorn tretenden Rückwand wird.

Marc Ries hat zu den Konstruktionen aus Rahmen, wie sie sich da weitern zu lockeren Regalen, Regalsystemen, Regalflügelaltären, Hängeregalen als Reliefs, rollende Regalstelen, geschrieben, dass in diesen Türtscher-Regalen nichts darin sei, das stimmt nur auf Umwegen. Schließlich führt Türtscher fragmental und fraktal eine Füllung ein aus weißen, schwarzen, roten, türkisen, ockerfarbenen Platten nun zwischen den schwarzen Geraden der Regalkonstruktion, so dass seine Skulpturen etwas an Mondrianbilder erinnern und an Intentionen des Neoplastizismus. Denn diese eingefüllten Platten sind exakt plan bei aufdringlich raumbildender Farbigkeit. Doch indem es sich bei den Farbigkeitsplatten um industriell gefertigte Verkleidungsplatten handelt, haben auch sie schon wieder mit der Anzeige- und Versprechensfunktion zu tun, die allen Zügen der Türtscher-Arbeit innewohnt. Und insofern stimmt tatsächlich Ries' Annahme, dass da ein anzeigend Rahmendes vorgestellt wird, das seine Rahmenfunktion leer lässt, auch für die Platten selber, indem sie per se an solcher Funktionalität teilhaben. Derart entsteht ein skulpturelles Bild unserer Zeit, wie sie sich markant die höchsten Kapazitäten des Datensammelns entwickelt hat, die es je gab. Und diese Datensammelmenge bietet sich an als die Akkumulation der Materialienversammlungen, die ein Durchdringen der Materialien zu ihrer Organisierung in einem Wissen, das mehr wäre als eine klassifikatorische Schubladenordnung, durch ihren alles Vergleichen sprengenden Umfang verunmöglicht. Die Materialien bleiben also stumm, als wären die Schubladen leer oder sie würden ein Getöse erzeugen, in dem keine Information mehr die andere hört, leeres Geräusch. Was also Erfahrung und Durchdenkbarkeit versprach verharrt im Status des Versprechens, so dass die Regale fürs Zusammenstellen von Informationszusammenstellungen auch leer bleiben können oder nur Verkleidungsplatten eben vor sich oder in sich aufnehmen. Fürs Vermuten im Leerlauf reicht diese Anregung, dahinter dürfe sich etwas aufhalten, aus. Das Ersticken in den Materialfluten erlaubt sich das breite Ausatmen der Regale bei Türtscher, das sogar Flügel zu strecken vermeinen lässt: Breitsein ist alles. Das Konstruktive der Montage beginnt sich zu zerblättern, bleibt dabei aber im Vorgang des zergehenden Zusammenhalts Moment für Moment ganz genau, solches nennt man heute das Dekonstruktive, in dessen dezentralisierenden Vernetzungsknoten, zentrifulgalen Gelenken, alles Mögliche sich einnisten mag und so ins Beiläufige hinein inszenierbar wird. Das wäre die kritisch-realistische Seite einer Ästhetik des Abwesens, welche Seite sich von der antizipatorischen dessen in einer Spurenarbeit zum Verschwindenden der Spur hin durchaus unterscheidet. Und doch können beide ohne einander nicht auskommen. Die Objekte Türtschers vermitteln so etwas wie ein An-den-Start-Laufen im Einlaufen.

Objekthaft ist eben Regal die drehfigurale Folge davon, gegenüber dem individuierenden Schrank drängt es darauf, nach allen Seiten fortgesetzt zu werden ohne Abschluss. Archive benötigen es zu ihrer Wesensstruktur, weil alles Archivarische sich als vermehrend, sammelnd, erweiternd verhält. Wir leben in einem Zeitalter der technisch sich entgrenzenden Archivierung. Das ist neben dem Ornamentalisieren der Kultur und mit ihr eine der wichtigsten Markanzen der Gegenwart. Und das Meisterhafte der gegenwärtigen künstlerischen Arbeit des Türtscher besteht eben augenfällig darin, dass sie das Rasternde in Mondriansche Konstruktionen der Farbflächen hinübertreibt, die schliesslich auch nach anderen Zwischenweisen durch lebensgüter der Gegenwartswelt ersetzt werden können in der Art des Einsatzes von Readymades. Damit wird die Vereinseitigung des Ornamentalen zur reinen Strukturalität unterlaufen, indem es provisorisch seine symbolischen Haltepunkte in sich bildet. Im Fall der Lebensgüter erfährt das deren reale Ambivalenz. Da wird nämlich durch solche Türtschersche Montage die Lebensgüterei nicht einmal wieder nur entlarvend dargestellt als die sich verabsolutierende Welt der Waren, in der über den Gebrauchswert des Lebens der Tauschwert der Profitbildung triumphiert, sondern symbolisierend wird nach den Auswegen aus den Triumphen des Infrastrukturellen gefragt in einer dialektischen Ornamentik zwischen den Polen des unaufhörlichen Ablaufs und des provokant provozierenden Einhalts. In der ansprechenden Funktion undogmatischer Ornamentik bleibt Rasterung kein Gerastere mehr. Warenweltstürmerei wird mit Realitätsssinn preisgegeben zugunsten der Gewissheit, dass sich die Warenwelt nur durch sie selber hindurch verlassen lässt zu einem Mehr als Ware.