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OR 12 c, 2022, Aluminiumrahmen, diverse Materialien, 150 x 110 x 10 cm, Fotorechte: Eva Kelety

Konkrete Möglichkeitsräume

Hartwig Knack, Oktober 2024

Franz Türtschers reliefartige bis dreidimensionale Wandobjekte der umfangreichen Serie „Bildarchitektur – Offener Rahmen“ zeichnen sich zuvorderst durch ihren viereckigen Modulcharakter aus. Den frühen, Anfang der 1990er- Jahren entstandenen Arbeiten dieser Werkreihe, gehen detaillierte Planskizzen voraus. In ihnen sind millimetergenaue Maßangaben und die verwendeten Materialien der einzelnen Bestandteile verzeichnet: Acrylglas, verschieden beschichtete Spanplatten, Sperrholz, Gummi, Kork oder auch Polyester wurden verbaut.

In späterer Zeit entstehen parallel zu den Wandobjekten Acrylmalereien, die einen ähnlichen, aber meist differenzierteren horizontalen und vertikalen Aufbau aufweisen und in ihrer Gesamtschau der konkreten Kunst zuzuordnen sind. Mal sind die einzelnen Kompartimente dieser Leinwände in Weiß, Schwarz und Grauschattierungen (FARBFELDER – REGIONEN), mal farbig (RASTER - SERIE A, ANORDNUNG) ausgeführt. Es fällt auf, dass sich sowohl die malerischen Motive, als auch – und insbesondere – die dreidimensionalen Wandobjekte nach oben hin öffnen. Türtscher stellt mit seinen aus herkömmlichen Aluminiumprofilen gefertigten „Offenen Rahmen“ (die obere horizontale Rahmenleiste und die Rückwand fehlen) das Tafelbild klassischer Prägung in Frage, zu dessen Wesen der ebene, flächenhafte und in sich geschlossene Bildgrund gehört. Nicht nur Durchblicke an den räumlich nach hinten gestaffelten und sich teilweise überlagernden einzelnen Farbtafeln vorbei zur Wand und die sich automatisch ergebenen Schattenwürfe sind wichtig, auch die gleichzeitige Öffnung der Werke in den Raum sorgen für Ideen von Bewegtheit und Veränderlichkeit.

Mark Rothko, einer der Hauptprotagonisten des Abstrakten Expressionismus in den USA, war sinngemäß der Auffassung: „Bilder müssen geheimnisvoll sein.“ Über einige seiner motivisch in zwei oder mehr Farbflächen unterteilte Malereien bemerkte er: “They are not pictures. I have made a place.“ Auch Türtschers „Offene Rahmen“ stellen für mich ähnlich wie Rothkos Arbeiten recht leicht zu erreichende visuelle Orte dar. Türtscher geht weit über ein bloßes Bildermachen hinaus. Mit seinen geometrisch geschichteten Ordnungsstrukturen schafft er tiefe Bildarchitekturen der Ruhe und Zugänglichkeit einerseits, aber auch Räume der Verdichtung und Konzentration, in die es sich mental oder intellektuell einzusteigen lohnt. Die bildgewordenen Orte stellen Möglichkeiten und Angebote dar, die ganz individuell erfahren und gedanklich verändert werden können.

Immer wiederkehrende Themen wie Bewegung, Offenheit, Dynamik und Prozesshaftigkeit prägen die „Offenen Rahmen“. Vor den Werken stehend erliegt man als Ausstellungsbesucher:in fast der Versuchung, in den Prozess der Bilddramaturgie einzugreifen und eine eigene Anordnung der grundsätzlich flexibel auf- und abbaubaren farbigen Module vorzunehmen. Türtscher streift hier die Grenzen der kinetischen Kunst, wo Rezipienten als Akteure auftreten. Manchmal sogar stehen einzelne Farbtafeln ohne Fixierung in den Aluminiumprofilen der Rahmung, jedoch ist es dem Künstler allein vorbehalten, diese zu bewegen und nach eigenem Ermessen in neue Bildzusammenhänge zu überführen.

Der aus der experimentellen Psychologie stammende Begriff „mental rotation“ scheint im Zusammenhang mit diesen Arbeiten wie aufgelegt. Es geht um Wahrnehmung und Informationsverarbeitung, um eine gedankliche Operation, die aus der Betrachtung zwei- oder dreidimensionaler Objekte eine Vorstellung entwickelt, welchen Anblick sie nach einer Drehung bieten würden. Oder auch wie zwei oder mehr Objekte gedanklich verschoben werden können, sich neu zueinander fügen, sich spiegeln oder anders miteinander in Verbindung treten.

Durch dieses Angebot eines spielerisch-gedanklichen Neuarrangierens erreicht Türtscher mit seinen statisch wohl austarierten Werken eine Dynamisierung und Rhythmisierung von Bewegung im Raum. Wir Kunstinteressierte organisieren uns gedanklich einen zeitlichen Bewegungsprozess: Welche Module muss ich wie positionieren, herausnehmen oder ergänzen, um eine Bildarchitektur zu formen, die meinen persönlichen Vorstellungen entspricht?

Hartwig Knack, Oktober 2024