Reduktion, Variation und Exzess
Sarah Kolb, Januar 2025
Eine horizontale Linie legt sich über eine vertikale, dann noch eine, und noch eine, senkrecht, waagrecht. Die Linien bilden ein solides Fundament, halten Maß, geben dem Blick Halt. In ihrem kontrastierenden Miteinander formen sie nach allen Seiten hin weiterstrebende Raster, Sinnbilder der Kontrolle und Berechenbarkeit, die sich in einer paradoxalen Versöhnung der Gegensätze als Prototypen der Transformierbarkeit und Offenheit für beliebige Inhalte erwei-sen, als ein idealtypischer Rahmen für alle möglichen Modifikationen, Wagnisse, Experimente. Manche Linien verlaufen kreuz und quer, verlaufen sich in ihrer Zartheit ins Ungewisse, in ein leises Flirren, Schweben, Ahnen. Die Liniengeflechte sind nur ein Anfang. Schicht für Schicht türmen sich in Franz Türtschers präzise komponierten Malereien uferlose Bildräume auf, deren unerwartete Komplexität sich zu opaken Oberflächen verdichtet, zu einem frei flottierenden Teppich aus virtuellen Anknüpfpunkten, Argumentationslinien, Ungereimtheiten, roten Fäden. Geflecht reiht sich neben Geflecht, Muster neben Muster, Vorder- und Hintergrund werden austauschbar, können jederzeit ineinander umschlagen. Das Gesamtbild wird von Diagonalen durchkreuzt, von Faltungen und Schrägen, die räumliche Tiefe andeuten, Spannung erzeugen, ein Moment der Irritation einführen. Die Raster laufen fort, springen von Bild zu Bild, durch den Raum, überlagern, wiederholen und verändern sich, greifen ineinander, greifen über auf skulpturale Elemente, schlagen schließlich ins Skulpturale um. Hoch- und Querformate, Bild-Flächen, Bild-Körper, Bild-Würfel, Bild-Module ergeben eine Art Baukasten nach dem Prinzip der markanten OFFENEN RAHMEN, deren Elemente in ihrem kontrastreichen Miteinander un-endlich variabel sind. Die Linien öffnen einen vieldimensionalen Raum, sind nicht nur Linien, sondern auch Ebenen, Wege, Grenzen. Sie kippen zuweilen nach links oder rechts, oben oder unten, scheren aus, sorgen für Abweichungen und Verzerrungen, für ein dezentes Unbehagen vielleicht auch, wenn das wohlgeordnete Formenvokabular aus dem Ruder zu laufen scheint, als wollte es eine ganze Welt dahinter in den Blick rücken. Die Linien und Ebenen stehen für sich, sie stehen für Konzepte, Denkmodelle, Assoziationen, Theorien, Geschichten. Und sie stehen für Gegensätze: drunter und drüber, dick und dünn, senk- oder waagrecht, digital und analog, diesseits oder auch jenseitig. Die Buchstaben und Worte, die sich in ihrer Sperrigkeit unter die abstrakten Formen mengen, tun das ihrige dazu: OPTION. ILLUSION. POESIE. TROTZ-DEM. INTUITION. WILLE. WIDERSPRUCH. MÖGLICHKEIT. KUNST. Und dann sind da die Far-ben, Licht-Räume, Harmonien und Dissonanzen, die sich mit anderen verbinden und überla-gern, Töne einer vielstimmigen Musik, die abstrakte Konstellationen und Raumgefüge, aber auch konkrete Landschaften und Situationen greifbar macht. AS REAGNAT. AS NEABLAT. AS LUFTAT. Im Zusammenspiel von Abstraktion und Konkretion sind wir auf unsere Sinne, auf unsere Fantasie zurückgeworfen. Was es in der Welt so alles zu sehen und denken gibt. ERWEI-TERTE MALEREI: Bildkompositionen, die jenseits der Rahmen in den Raum ausgreifen, sich untereinander verbinden, sich auf architektonische Elemente ausweiten, auf Teppiche, Möbel, sonnendurchflutete Fensterpaneele, die ihre Akzente – rot, blau, grün, violett – auf ein buntes Treiben inmitten von Schneewehen werfen. Während eine Pistenraupe das LECH-RASTER ins eben noch unberührte Weiß zeichnet, entsteht der entfernte Eindruck, als hätten die Hangbefes-tigungen ihre Schatten ins Tal geworfen. Am Ende ist alles eins.
Am Ende ist alles eins. Nach vielen Jahren, in denen sich unsere Wege immer wieder gekreuzt haben, denke ich zurück an meine erste Kooperation mit Franz Türtscher im Rahmen einer Ausstellung in Bregenz. Hinsichtlich der formalen Qualität und inhaltlichen Stoßrichtung sei-ner Werke hat das Zitat, das ich meinem damaligen Begleittext vorangestellt habe, bis heute nichts an Passgenauigkeit verloren, laden sie uns als BetrachterInnen in ihrem verführerischen Spiel der Farben, Muster und Begrifflichkeiten doch geradewegs dazu ein, jenseits der nackten Präsenz ihrer sinnlichen Reize auch in andere, mitunter nicht nur naheliegende oder sogar uto-pische Räume einzutauchen und uns im Hier und Jetzt zu verbinden:
»Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander. Wir sind, glau-be ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt.«
Wenn die abendländische Kultur mit Michel Foucault gesprochen an einen Punkt gelangt ist, an dem es weniger um lineare Entwicklungs- und Fortschrittsmodelle als vielmehr um ein tiefgrei-fendes Verständnis komplexer, raumzeitlicher Zusammenhänge geht, erweist sich auch das Denken in Gegensätzen und Polaritäten, in sich gegenseitig ausschließenden Kategorien wie schwarz oder weiß, alt oder neu, Kunst oder Alltag als überholt. Was in Anbetracht des Neben- und Durcheinanders unterschiedlichster Perspektiven und Realitäten von Bedeutung ist, sind vielmehr jene Übergänge und Formen des Sowohl-als-Auch, die auch den Arbeiten Franz Türt-schers ihre Spannung verleihen. Rechtwinklige Strukturen werden von Schrägen und freihän-digen Impulsen durchkreuzt, und es ist fraglich, ob die Farben, die fein säuberlich aneinander-gereiht und doch beliebig zusammengewürfelt erscheinen, im polyphonen Miteinander nun zueinander passen oder sich doch eher schlagen, wie man so schön sagt. Selbiges lässt sich von Bildern aus unterschiedlichen Werkgruppen sagen, die sich ihren divergierenden Qualitäten zum Trotz in raumgreifenden Arrangements vereinigt finden. Jede Linie, jeder Ton, jede Arbeit wirkt ebenso autonom wie auch in kumulativer Wechselwirkung mit anderen.
Wo kämen wir hin, würden wir unseren Assoziationen freien Lauf lassen? Franz Türtschers Arbeiten laden dazu ein, den Versuch zu wagen. Ich gehe von einer Vorstellung aus und knüpfe mit einer anderen an. Unweigerlich ruft ein Eindruck, ein Gedanke, ein Anknüpfpunkt den nächsten hervor. Die dunklen horizontalen Balken lassen an Schwärzungen denken, an Worte, an Augen, die zu viel verraten könnten. Wie die Balken könnten sich auch jemandes Arme ver-schränken, einem Vorbehalt Ausdruck verleihend angesichts der Frage nach dem Sinn, nach einem möglichen Horizont, einer potentiellen Wendung. Unverhofft halte ich mich an einen vertikalen Balken, dessen eindringliches Gelb an die Straßenmarkierung erinnert, die mich auf dem Weg von A nach B begleitet, während meine Hand eins wird mit dem Lenkrad und eine Leuchtreklame in der Ferne ihr farbenfrohes Spiel mit mir treibt. Meine Aufmerksamkeit springt zu einer seltsam eingeknickten Architektur am linken Bildrand, dann weiter zum dahin-terliegenden Himmel, dessen tiefblauer Kontrast mich unwillkürlich entspannt. Hand in Hand mit dem Komplementären geht sein Kippbild-Effekt. Wieder und wieder muss ich mich ent-scheiden: Welche Wahrnehmung, welche Gedanken stelle ich in den Vordergrund? Lenke ich meinen Fokus auf Kontinuitäten oder Brüche, auf das Verbindende oder auf das Trennende, auf den Konflikt oder eine mögliche Lösung, einen Schritt in die Zukunft? Verlasse ich mich auf Intellekt oder Intuition? Was bedeuten diese nach allen Seiten hin ausfransenden Texturen, Netzwerke, Rasterungen, Koordinatensysteme, Fadenkreuze und Patchworkstrukturen? Sollte ich überhaupt zu einem Schluss kommen – und wenn ja: Worauf wollen diese Bilder hinaus?
Mit einer geradezu körperlich spürbaren Unmittelbarkeit und Präsenz öffnen sich Franz Türt-schers Arbeiten zum Gegenüber hin, in dessen Augen die sich wechselweise überlagernden Harmonien und Dissonanzen zu einem vielschichtigen, voluminösen Bildganzen verschwim-men. Indes der Eindruck einer zum Stillstand gebrachten Hektik, einer Form von Reizüberflu-tung und Unverdaulichkeit geweckt wird, könnte dieser auch als Anstoß zum Innehalten gele-sen werden. Wo unsere kritische Distanz an Grenzen stößt, sehen wir uns plötzlich auf die überbordende Heterogenität und Dynamik einer von allen Ecken und Enden hereindrängenden Lebenswirklichkeit zurückgeworfen. Es ist kein Zufall, dass Franz Türtschers Bilder oft an Fenster oder Türen denken lassen, die auf etwas Dahinterliegendes, auf ein Jenseits der Bild-oberfläche, auf andere Orte und größere Zusammenhänge verweisen. Das Verbindende dieser Übergangs- und Schwellenfiguren ist ihr stabiler Rahmen, der den Werken in Gestalt der wie-derkehrenden horizontalen und vertikalen Grundpfeiler Stabilität verleiht, damit vielleicht auch eine gewisse Sicherheit vermittelt. Er bildet auch das Fundament jener Serie skulpturaler Bild-architekturen, deren Titel OFFENER RAHMEN die Gesten des Öffnens und Rahmens, jenseits des traditionellen konservatorischen oder ästhetischen Einfassens vollendeter Werke, als künst-lerische Verfahren und sozusagen als Bildakte im eigentlichen Sinne begreift.
In diesem Punkt knüpfen Franz Türtschers Arbeiten unmittelbar an das Prinzip des »Ready-made« an, das Marcel Duchamp 1913 begründete, indem er ein Fahrrad-Rad auf einem Kü-chenschemel montierte und es damit seines ursprünglichen Nutzens beraubte. Seinen Nutzen erfüllte das Objekt natürlich nach wie vor, diente es dem Konzeptkünstler der ersten Stunde doch dazu, einer neuen Vision von Kunst Ausdruck zu verleihen, die sich weniger auf die äs-thetische Eigenart bestimmter Gegenstände bezog als vielmehr auf den Kontext und den Rah-men, in dem diese präsentiert und wahrgenommen wurden. Duchamps Kunstgriff beschränkte sich dabei keineswegs auf die vermeintlich so simple wie geniale Geste, einen Alltagsgegen-stand durch den bloßen Akt der Wahl in ein Kunstwerk zu verwandeln – ein Mythos übrigens, dessen Tragfähigkeit die Kunstgeschichte bis heute nur bedingt in Frage gestellt hat. Duchamps Kunstgriff bestand vielmehr darin, den tatsächlich ausgesprochen einfachen Akt der Wahl (ei-nes Objekts oder Mediums, einer Form, Farbe etc.) mit dem gewissermaßen komplementären Akt einer philosophischen Reflexion über Zusammenhänge zu verbinden, die Werken einerseits zugrunde liegen sollten und die sie andererseits auch wieder neu begründen würden. Konkret kommen hier einerseits die vielen Studien (zur Geschichte der Perspektive, zu moderner Physik und zeitgenössischer Literatur, zur Alltagskultur etc.) zum Tragen, die Duchamp seinen Kon-zepten zugrunde legte, andererseits aber auch die in einer berühmten Formel zum Ausdruck gebrachte Überzeugung, dass es schlussendlich immer auch die BetrachterInnen sind, die Kunstwerken zu ihrer Wirkung verhelfen. Was zunächst einmal sehr theoretisch klingt und darüber hinaus einiges an Vorwissen erfordert, findet bei Duchamp aber auch Ausdruck in ei-nem weiteren Werkkomplex, der parallel zu den Ready-mades entstand und der gleichsam als Gegenstück zu diesen fertig vorgefundenen Werken betrachten ist. Es handelt sich dabei um ein großformatiges, frei im Raum positioniertes Gemälde auf Glas, dessen Hintergrund Duchamp bewusst offenlässt, um die BetrachterInnen einerseits auf die Welt hinter dem statischen Bild-Horizont zu verweisen und sie andererseits mit ihrem eigenen Spiegelbild zu konfrontieren, durch das sie – als RezipientInnen mit einer ganz bestimmten Perspektive ¬– zum Teil des Bild-geschehens werden.
In einer Extrapolation dieses radikal neuen Kunstbegriffs knüpfen Franz Türtschers Arbeiten nicht nur an Duchamps Idee vom Bild als einem Fenster an, das die Idee eines objektiven Durchblickens oder Durchschauens von Grund auf ad absurdum führt. Sie geben eben keinen vorgefertigten Blick auf eine wie auch immer geartete Landschaft, Wirklichkeit, Gesellschaft oder Kunstwelt dahinter frei, sondern rücken vielmehr den entscheidenden Horizont der Wahl in den Blick, den Franz Türtscher weiterdenkt, wenn er seine Werke basierend auf dem Kon-zept ERWEITERTER MALEREI als ein Spiel mit austauschbaren Elementen anlegt, das die Be-trachterInnen dazu einlädt, jenseits von konkreten Arrangements auch weiterführende imaginä-re Perspektiven und Konstellationen auszuloten. Das Prinzip des Ready-made wird dabei nicht nur in Bezug auf ein Sortiment von Bild-Modulen oder Werken schlagend, es unterfüttert den Werkprozess auch dort, wo der Künstler anstelle von Metermaß und Bleistift auf handelsübli-che Abdeckbänder zurückgreift, um die Dimensionen der einzelnen Bildelemente mit prakti-schem Humor festzulegen und nebst einer prägnanten Bildsprache auch eine höchst eigenwilli-ge Typographie zu entwickeln.
In ihrem grundlegend unabgeschlossenen Charakter gleichen Franz Türtschers Arbeiten Schwellenobjekten, deren Sinn (in der Doppelbedeutung von Französisch sens für Sinn und Richtung) weniger in bestimmten Inhalten oder Aussagen liegt als vielmehr in einem Spektrum möglicher Zugänge und Blickwinkel, zu denen sie insbesondere auch im Zusammenspiel der unterschiedlichen Werke und Serien Anlass geben. In ihrer formalen Klarheit und Konsequenz sind sie nicht nur der Tradition konkreter Kunst verpflichtet, sondern auch einem phänomeno-logischen Zugang, der die Ebenen der sinnlichen und intellektuellen Auseinandersetzung inei-nander verschränkt. OPTION KORREKTUR. AUF DISTANZ HALTEN. MUT. POESIE. AUF AU-GENHÖHE. Was Jacques Lacan vom Bild/Schirm als einem Ort des Entzugs behauptet, wird jedenfalls auch anhand von Franz Türtschers ERWEITERTER MALEREI erfahrbar:
»Was Licht ist, blickt mich an, und dank diesem Licht zeichnet sich etwas ab auf dem Grunde meines Auges – nicht einfach jenes konstruierte Verhältnis, das Objekt, bei dem der Philosoph hängenbleibt – sondern die Impression, das Rieseln einer Fläche, die für mich nicht von vornherein auf Distanz angelegt ist. Dabei kommt etwas ins Spiel, was beim geometralen Verhältnis elidiert wird – die Feldtiefe in ihrer ganzen Doppeldeutigkeit, Variabilität, auch Unbeherrschbarkeit. In der Tat ist eher sie es, die mich ergreift, mich in jedem Augenblick umwirbt und aus der Landschaft etwas anderes macht als eine Perspek-tive, etwas anderes als das, was ich ›Tableau‹ genannt habe.«
So abstrakt und unnahbar die Arbeiten Franz Türtschers auf einen ersten Blick erscheinen mö-gen, so unmittelbar entfalten sie ihre Wirkung im konkreten Moment. Tatsächlich reißen die fein säuberlich arrangierten Linien bei näherer Betrachtung allenthalben aus, und das Spektrum sorgsam abgestimmter Farben, das so wohlgeordnet dargeboten wird, lässt beim besten Willen kein System erkennen. Ein abstraktes Muster, schwarz auf weiß, spricht endlich meine Mutter-sprache. LUAGA. LOSA. SCHWAEZA. Der farbenfrohe Barcode nebenan ist um keinen Preis verlegen. Während die Werke ihre unzweifelhafte Wirkung tun, zweifelt die Philosophin an allzu lauteren Konzepten, die vom leisen Rieseln der Oberflächen ablenken könnten. Wie eine Dohle, tastend und tanzend, um den Berg, so gleitet die beschwingte Aufmerksamkeit um Franz Türtschers Archiv der Wechselwirkungen.
Kurzbiografie
Sarah Kolb, Kunsttheoretikerin und Kuratorin, lebt und arbeitet in Wien und Linz. Im Rahmen ihres Projekts Topologien der künstlerischen Forschung forscht sie an der Kunstuniversität Linz zu relationalen Wissensmodellen in Kunst und Theorie. Sie ist Gründungsmitglied des transdisziplinären Netzwerks Mycelial Space und des Vereins Viktoria – Raum für künstleri-sche Forschung und Social Design in Wien. Mehr Informationen: www.relational-knowledge.net.